Wichtig ist immer den Gedanken der „Sozialen Dreigliederung“ im Kopf zu haben, dass kein Glied über das andere herrschen darf. So wie heute die Wirtschaft, das Kapital über das Rechts- und Geistesleben herrscht. Alle Vorschläge zu einer Demokratieentwicklung sehen daher ein freies Geistes- und Rechtsleben vor, das sich unabhängig von Kapitalinteressenweiter entwickelt.
Seit vielen Jahren gibt es Initiativen zur Demokratieentwicklung. Peter Schilinski hat schon in den 50er Jahren eine Volksabstimmung über die Wiederbewaffnung der BRD gefordert. Josef Beuys hat 1971 das Büro für direkte Demokratie eröffnet und Wilfried Heidt hat mit anderen die dreistufige Volksgesetzgebung erarbeitet. Aus dieser Arbeit entstand auch der wichtige Verein für „mehr Demokratie“, der auch so heißt.
Das repräsentative System mit der Wahl von Parteien ist nun rund hundert Jahre alt und etwas antiquiert. Wiederum Peter Schilinski hat die Parteipolitik bereits in den 70er Jahren kritisiert, wurde aber mit der Gründung den „Grünen“ dann etwas versöhnlicher.
Parteien? Da gibt es die Ochsentour in der Partei, bei der man sich als Kandidat durchbeißen muss, Netzwerke werden geknüpft, Beziehungen gepflegt und dabei werden die eigenen Ideale hinten angestellt, es werden Kompromisse gemacht. Als Mitglied des Bundestags werden die Fragen komplizierter, aber die jeweiligen Fraktionen üben einen Zwang auf ihre Mitglieder aus, dass sie so abstimmen wie die jeweilige Führung es will. Das Gewissen, dem der Abgeordnete folgen soll, ist damit dahin.
Highlights im Bundestag sind immer die Abstimmungen, bei denen es um moralische Fragen geht und der Fraktionszwang aufgehoben ist. Da finden dann persönliche Statements und Fragen Eingang in die Debatte.
So wird deutlich, dass es nicht um Partei-Programme gehen kann, sondern um Menschen. Parteiprogramme sind ja immer ein Kompromiss und oft genug dem vermuteten und den offensichtlichen Interessen der Finanziers gewidmet. Nicht zuletzt sind unsere Berufspolitiker den Lobbyisten des Kapitals, der Großbanken, der Investmentsfonds und den globalen Konzernen ausgeliefert, die ihre Interessen mit Macht verfolgen.
Die Weiterentwicklung der Demokratie kann nicht ohne eine neue Wirtschaftsordnung gelingen.
Doch genug. Es ist deutlich geworden, wie die Demokratie weiter entwickelt werden kann:
Abschaffung des Fraktionszwang und die Zulassung andere Methoden neben den Parteien als Mittel der politischen Meinungsbildung.
Die Gewählten müssen wieder abgewählt werden können.
Wahlversprechen bzw. Parteiprogramme müssen einklagbar werden.
Abgeordnete müssen haftbar gemacht werden für ihre Gesetze.
Transparenz des Tuns von Abgeordneten muss gewährleistet sein.
Wählende sollten eine Art Ersatzstimme erhalten. So soll, falls ihr Gewählter an einer 5 Prozent Hürde scheitert, die ‚Ersatzstimme‘ zur Geltung kommen. Dadurch können mehr Stimmen im Wahlergebnis abgebildet werden.
Auch das Prinzip des Parteienwählens kann anders geregelt werden: Abschaffung der 5% Hürde und
eine andere Stimmabgabenregelung. Der chinesische Philosoph Zhao Tingyang bringt hier die Netto-Pro-Regel ins Spiel. Jede*r Stimmberechtigte* hat zwei Stimmen, eine für und eine gegen eine Partei. Netto-Pro bedeutet nun, dass die Dafür- den Dagegen-Stimmen gegengerechnet werden und die Differenz das eigentlich Ergebnis ergibt. Das kann man auch bei Entscheidungen in Sachfragen einführen.
Zhao bringt auch das 5-Stimmen-System in die Debatte. Es kommt aus der Geschichte Chinas und braucht sicherlich noch eine Übertragung ins europäische System. Die 5 Stimmen verteilen sich auf 1x König (Kanzler*in), 1x Ministermehrheit (Regierung), 1x Volk, 1x Himmel (Experten der Naturwissenschaften),1x Himmel (Experten der Geisteswissenschaften).
Wenn alle dafür sind, dann ist das Ergebnis optimal. Wenn beide Himmel und ein anderer dafür sind, kann das Ergebnis funktionieren, wenn nur 1 Himmel dafür ist, ist das Ergebnis fragwürdig und wenn kein Himmel zustimmt, bedeutet das ein Nein.
Zhao erweitert mit seinen Vorschlägen unseren Horizont.
Auf Parlamentarischer Ebene kann eine Entscheidungsfindung auch mit den Methoden der Soziokratie gelingen, also einem System, das in Kreisen organisiert ist und wo Entscheidungen mit der Konsent-Methode gefunden werden. Konsent bedeutet, dass das beschlossen ist, gegen das es keinen schweren, b gründeten Einwand gibt. Konsent bedeutet, dass eine Lösung gefunden werden muss. Kreisorganisation bedeutet eine flache Hierarchie, die jeweiligen Kreise können über ihre eigenen Notwendigkeiten selber bestimmen, sind aber mit allen anderen Kreisen durch Delegierte verbunden. Letztlich gibt es in jedem Kreis zwei Menschen, die mit den anderen Kreisen verbunden sind. Und bei allem gilt dabei die offene Wahl dieser Delegierten. Diese Wahl ist moderiert.
Es wäre doch ein sehr spannender Versuch, das mal im Bundestag zu versuchen. Die Regierung läßt sich ja von diversen Kommissionen beraten. Hier diese Art von Entscheidungsfindung einzuarbeiten wäre ein Fortschritt. Vereine, Gemeinschaften, Organisationen und Unternehmen versuchen es schon.
Parteien wählen ist das eine, aber das andere ist die Partizipation der Betroffenen an der Entscheidungsfindung. Auf der Webseite partizipation.at finden sich 147 Anwendungsmöglichkeiten. Die Soziokratie ist eine davon, und ebenso der Bürgerrat.
Am Beispiel des Bürgerrates wird deutlich, worauf es ankommt. Das Ergebnis muss in irgendeiner Weise verbindlich und verpflichtend für die Regierung werden. Sonst sind Partizipationsmodelle eine Phrase. Aber, nicht nur, sondern sie führen praktisch vor, wie Entscheidungen ohne Parteien gefunden werden. Ausgeloste Bürger*innen nehmen an einem längeren Meinungsbildung-Prozess teil, mit Inputs von Experten, moderierten Gesprächsrunden auf Augenhöhe, … und die Öffentlichkeit kann daran beteiligt sein.
Für mich ist die Idee eines Bürger*innenrates eine Vorstufe zu einer “dritten Kammer”, neben Bundestag (Parteien), Bundesrat (Länder). Es gab bisher einige selbstorganisierte Bürger*innenräte und einen von der Regierung eingesetzten zu Gesundheits- und Ernährungsfragen.
Und es gibt zur Entscheidungsfindung natürlich immer noch die Volksgesetzgebung – die Volksabstimmung. In den Ländern und Kommunen sind diese Volksabstimmungen unterschiedlich geregelt und können noch verbessert werden. Auf Länderebene gab es etwa 50 Volksabstimmungen und seit 1956 gab es insgesamt 8.958 Bürgerbegehren und Ratsreferenden in den Kommunen. Nur auf Bundesebene fehlt die Volksabstimmung. Auch bei den Volksabstimmungen und Bürgerbegehren könnten die Vorschläge Zhao`s hilfreich sein, um hier eine Weiterentwicklung über eine Mehrheitsentscheidungen hinaus zu ermöglichen.
Wie wir alle wissen, ist es nicht einfach, diese Vorschläge zu realisieren. Die Machtverhältnisse sind relativ klar verteilt und hier etwas zu ändern bedeutet das Bohren dicker Bretter. Peter Schilinski hat vor rund 70 Jahren die Volksabstimmung gegen die Wiederbewaffnung gefordert. Das war der Startpunkt für den Verein „Mehr Demokratie“, der heute federführend in der Entwicklung der Demokratie ist. ‚Mehr Demokratie‘ hat heute rund 10 000 Mitglieder und erreicht etwa 200 000 Interessierte. Wir sehen, wie ein Impuls wachsen kann.
Und der Einzelne? Es gibt viele Möglichkeiten sich politisch zu engagieren. Sich zu informieren ist schon mal ein Anfang und vielleicht kommt es ja zu Aktivitäten. Diese können sehr unterschiedlich aussehen – vom Schreiben von Beiträgen bis hin zum persönlichen Engagement in einer politischen Bürgerinitiative. Wichtig dabei ist immer die Perspektive. Auch wenn ich vor Ort oder gar alleine zuhause aktiv werde, ist es wichtig zu erkennen, dass ich nicht wirklich alleine bin. Hunderttausende von Initiativen arbeiten weltweit an dem „Großen Wandel“, auf allen Kontinenten und in allen Bereichen. Leserbriefe, Gespräche mit Abgeordneten, kommunalpolitische Initiativen, Gemeinschaften und Initiativen bis hin zu großen Nicht-Regierungsorganisationen sind Teil der „besseren Welt“.
Wichtig ist es auch, sich diese bessere Welt vorzustellen.
Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind immer noch die Ideale dieser besseren Welt. Wir müssen politisch handeln. Und das Wort Politik nicht als Parteipolitik zu verstehen. Es finden sich dafür die Worte Tätigsein, schöpferisch gestalten, sowohl für mich selbst, als auch für das Ganze (die Anderen, die Natur). Das heißt, ich verstehe mich nicht als Konsument oder Wähler, sondern als Individuum,
als Mensch, und als Teil des Ganzen, dass ich meine Vorstellungen der Gesamtheit zur Verfügung stelle und das Resonanzprinzip als Weg zur Verwirklichung meiner Ideen verstehe.
Meine politische Identität als Individuum, als Mensch zu leben und es mit Anderen in einer Gruppe zu teilen und zu leben. Hier sind die soziale Prinzipien eines gelingenden Miteinanders zu beachten (Gewaltfreiheit, Commoning, Resonanzprinzip,…) Wenn andere Gruppen meine/unsere Vorstellungen aufnehmen, können wir gemeinsam weiterarbeiten und ein etwas größeres Gebilde (Netzwerk, Dorf, Stadtteil, Kommune, Bezirk) versuchen zu gestalten….
Da wir ja nicht im Nichts leben, müssen wir auch unsere berechtigten menschlichen Interessen wahrnehmen/verteidigen – ohne dabei Macht erringen zu wollen. Da bieten sich alle Elemente der Zivilgesellschaft an. Auf diesem Weg entsteht ein neues Miteinander, geprägt als Selbstorganisation durch Gleichrangige.
Dieter Koschek
jedermensch 711