Juli 21, 2023

Verlebendigen der Wahrnehmung

Das ist wohl das Ziel der „Erkundungen am Epochenrand“ gewesen. Die Veranstaltung fand in Bonn unter der Federführung von Hildegard Kurt statt. Die Stadt und die anderen städtischen Einrichtungen (Museum, VHS) unterstützen das Vorhaben, das sehr ambitioniert neue wünschenswerte Zukünfte aus einem wünschenswerten Miteinander entstehen und erfahrbar machen will. In drei Arbeitsfeldern (Humusaufbau, Gemeinwohlökonomie und Rechte für die Natur) wurde durch kurze Impulsvorträge Anregungen für Gestaltungsmöglichkeiten eine menschlicheren Zukunft gegeben.

Die Begegnungen zwischen den Teilnehmenden waren offen und von Interesse am anderen geprägt.

Ich lernte Akteur*innen aus den verschiedenen Feldern kennen und ihre Bemühungen, ihr Umfeld zu einem menschlicheren, liebevolleren Miteinander zu gestalten – was auch zu einem „Wir“ führte, da die Grundkomponenten bei allen ähnlich sind. Besonders der Beitrag von Konstantin Pauly zum Humusaufbau unterstrich dabei die Grundzüge der gemeinsamen Arbeit: Akzeptanz der Vielfalt, Belebung des gefühlten Ganzen, Erfahrung des Verbindenden und der Zwischenformen, dem Dialog. Das war so überrschend, dass Konstantin Pauly seine Arbeit mit Humus so in Übereinstimmung mit den „Verlebendigen“ im Sinne von Hildegard Kurt brachte. Da war ein Kribbeln der Haut angesagt.
Auch machte er das zweite Motto „Vom Ding zum Du“ auf eine sehr naturnahe Weise greifbar:

„Der Dualismus des abendländischen Denkens – die Annahme, nur der Mensch sei kraft seiner Ratio Subjekt, und die gesamte nichtmenschliche Mitwelt sei Objekt – gehört ins Archiv der Menschheitsgeschichte. Wissenschaftlich ist dieses Weltbild inzwischen überholt. Erkenntnisse etwa der Quantenphysik oder der neuen Biologie legen ein Mensch-Welt-Verhältnis nahe, das nicht mehr auf Trennung von Geist und Materie, Mensch und Natur, Natur und Kultur beruht, sondern auf Kontinuität und Zusammengehörigkeit.“ Hier sprach die Handvoll Humus zu der Gruppe mit der lebendigen Vielfalt, in der so viele Lebewesen existieren wie Menschen auf der Erde: über acht Milliarden.

Der Künstler Philip Stoll schickte uns auf einen schweigenden Spaziergang durch die Bonner City Sein Credo: „Aufmerksamkeit ist in meiner künstlerischen Arbeit das zentrale schaffende Medium. Was passiert in einem Moment reiner Aufmerksamkeit? Wie können wir unsere Sensibilität für die Welt so erhöhen, dass sie sich selbst offenbart? Wie können unsere menschlichen Aktivitäten von einer Liebe für das Unsichtbare getragen sein? In allem dem wir begegnen, ist ein ihm innewohnendes Leben. Es zeigt sich, spricht zu uns, in Orten, Menschen, Ländern, politischen Entscheidungen, wirtschaftlichen Geschehnissen und kulturellen Entwicklungen. Überall, wo wir mit dem Herzen aktiv sind, kann die Welt in frei gerichteter Aufmerksamkeit ihr eigenes Potential entfalten. So wird aus Sterben Leben, aus Umweltkatastrophe Um-und Mitweltentwicklung, aus Krieg Zusammenarbeit, aus Aussichtslosigkeit Vision, aus Klimawandel ökologisches und geopolitisch-soziales Potential. Wenn die Welt zu mir spricht, spreche ich zu ihr in meiner Aufmerksamkeit zurück. Dieses Gespräch ist meine Suche.“

Leider hielt ich mich nicht an die Aufgabe, schweigend aufmerksam durch die City zu gehen, sondern unterhielt mich angeregt mit meiner Mitgängerin. Doch auch dieses Gespräch brachte neuen Zugang zum Lebendigen.

Doch eine weitere künstlerische Intervention lenkte unsere Aufmerksamkeit doch noch auf die Bonner City, jedenfalls mit den Blick aus dem Fenster auf ein mich ansprechendes Detail und die Frage, warum ich mir dieses Detail (eine Werbeschrift) aussuchte. Jennifer Hoernemann ließ uns durch Körperarbeit erfahren, wie es ist, wenn „ich (oder mein Atem) mich berührt“ und zusammen mit ihrem Partner Walbrodt regten sie an, uns auf Fundstücke aus der Natur (Mineralien, Früchte, Samen, Äste, usw.) einzulassen. Die Aufgabe lautete ihnen nachzuspüren, was sie mir sagen wollen. Das wurde dann in großer Runde jeweils ausgesprochen. Meine Bohne sagte mir, dass Samen säen und Samenpflege im Sozialen meine Aufgabe sei.

Die Substanzrunde zeigt auf, dass sich auf jeden Fall bei einzelnen neue Haltungen abzeichnen. Eine Teilnehmerin fühlt sich derart bestätigt, dass sie ihre Selbstzweifel erkannte und sie durch eine Anerkennung ihrer Arbeit durch die Gruppe ersetzen konnte. Eine andere, in einer Wohngenossenschaft tätige Teilnehmerin lies ihre Zweifel und Angst (in den aktuellen Krisen) hinter sich und schöpfte neuen Mut und Zuversicht. Ich selbst konnte mich zwischen dem Entweder-Oder, zwischen den Konfliktparteien (in Bezug auf den Krieg) verorten. Es ging mir um das Halten meiner Überzeugungen und gleichzeitig das sehen des Grau – zwischen dem Schwarzweiß.

Die Abschluss-Kunst-Präsentation war eine Lichtkunst-Arbeit von Gregor Eisenmann, ein Film, dem Thema der Tagung nachempfunden, der dann auf ein Haus des Stadtmuseums Bonn projiziert wurde, ein Erlebnis in der Dunkelheit im Freien.

Zusammenfassend wurde mir deutlicher, was Hildegard Kurt meint, wenn es neben der Realität, die Dinge, Sachen…abtrennen, sortieren, kategorisieren, beurteilen will, eine Wirklichkeit gibt, die eine energetische Sphäre, eine Kraft ist, die in Gemeinschaften wirkt, in der ich staunen, prozesshaft werden und wandeln kann. Und ich spürte, dass wir, die Teilnehmerinnen in gegenseitiger Beziehung sind, auch zu dem nicht-menschlichen Teilnehmer, dem Bärlauch in unserem Kreis.

Ich bin dem Verlebendigen nähergekommen, was aber ein hohes Maß an Gegenwärtigsein erfordert und wie wichtig die Fähigkeit ist, Unsicherheit, Ratlosigkeit, Gefühle des Ungenügend, Nicht-Wissen aushalten, denn wir befinden uns erst am vorderen Rand der Möglichkeiten.

Ich glaub inzwischen, dass damit das Ziel der Tagung, dazu anzuregen, mitzuweben an einer neuen großen Erzählung, die ermutigt und Zukunftsgestaltungslust mobilisiert, gelungen ist.

Dieter Koschek
erschienen in jedermensch 707

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