August 24, 2022

Nongkrong

Das ist indonesisch und bedeutet sich treffen und abhängen. Bei nongkrong geht es nicht um Leistung und Bestätigung. Es geht nur darum, Zeit miteinander zu verbringen und sich gegenseitig die eigene Geschichte zu erzählen.

Wenn ich meinen Besuch in Kassel als nongkrong verstehe, dann habe ich viel erlebt und gesehen Drei Tage reichten nicht aus, um die gesamte Fülle der Ausstellung zu erfassen. Eigentlich habe ich nur einen Überblick über die Themen erarbeitet und es bräuchte nochmals drei Tage um tiefer einzutauchen.

Das Fridericianum, das wir durch den Hintereingang betraten, verwirrte mich total. Die vielen Räume waren für mich nicht erlebbar. Zudem war das Haus schon sehr gefüllt mit BesucherInnen. Zur Hälfte der 100 Tage haben über 420 000 Menschen die Ausstellung besucht. Von der politischen Debatte über Antisemitismus war in Kassel nicht viel zu finden. Die findet in den Medien statt.

Wir gingen zum Eingang und begannen von vorne. Ein großer gestalteter Kindergarten beinhaltete die eine Hälfte des Erdgeschosses, die andere versuchte die Arbeitsprozesse des Kuratorenkollektiv runagrupa darzustellen. Große leere Regale und Wandbeschriftungen, einfache Arbeitsplätze und gemütliche Sitzecken waren die Ausstellungstücke. Ich hatte mich ja im Vorhinein mit der Arbeitsweise von ruangrupa beschäftigt, aber leicht war es nicht. Doch ich halte das Konzept für geradezu zukunftsweisend. Kunst aus der Sicht von KünstlerInnen aus den Ländern des Südens. Eine Kritik des Kapitalismus und des Kolonialismus ist immanent. Es kuratiert ein Künstlerkollektiv, das andere Kollektive überwiegend aus dem Globalen Süden einlädt und zudem gemeinsame Nutzung von Ressourcen, teilen, gemeinsam entscheiden, gemeinsam besitzen und gebrauchen als wichtige Elemente ihrer Arbeit ansieht.
Und auch die Kunst sind nicht die „Meisterwerke“ von künstlerischen Individuen, die auf dem Kunstmarkt Millionen erzielen und als Kapitalanlagen fungieren, so sind zu sehen Skulpturen, Installationen, Performances, Videoarbeiten – aber auch Arbeitsprozesse, Dokumentationen, Reflexionen der eigenen Arbeit, zum Teil eingebettet in Widerstandsbewegungen der Postkolonialen Länder. Keine „Weltkunstschau“ zum Anschauen und Wohlfühlen, wie kreativ „wir“ doch sein können.

Das „Handbuch“, der Katalog, ist schon eine Fundgrube an Ideen, Schöpferkraft und der Umsetzung unter erschwerten Bedingungen. Und mit diesem richtungsweisenden Konzept ist die documenta ja nicht allein. Auch in der deutschen Kunstszene sind Begriffe wie Partizipation (z.B. Lindauer Biennale 22), Empowerment (z.B.Kunstmuseum Wolfsburg) nicht mehr fremd. Und es gibt noch viel mehr davon.

Für mich, der in der Kunst das Neue, die Zukunft sehen und zu erkennen versucht, eine wahre Freude. Nicht mehr die elitäre, monetäre Vermarktung von Kunst steht in den Startlöchern, sondern eine ganz neue Verständigung davon, was „jeder Mensch ist ein Künstler“ bedeuten kann.
Und die Definitionshoheit, ab wann was als Kunst bezeichnet werden darf, liegt nicht mehr in den Händen der Kunsthändler, sondern bleibt allen BetrachterInnen überlassen. Es findet eine Entkapitalisierung von Kunst statt.

Die Prozesse und Arbeitsformen waren nicht einfach sichtbar, fanden sie doch im Wesentlichen vor der documenta – im Kreis der Kurtoren und den beteiligten Kollektiven, sowie des künstlerischen Teams – statt.
Es braucht schon viel Vorstellungskraft diese neue Umgangsweise zu erkennen. Dass es anders ist, sicher, aber die Inhalte des kollektiven Kuratierens? Es waren für mich keine Treffen, Workshops oder anderes zu erleben. Einzig ein „Rundgespräch“ mit Menschen aus der künstlerischen Leitung und Besuchern zum Thema „Ist das Kunst?“ konnte ich wahrnehmen. Mehr zufällig stolperte ich darüber im ruruhaus, dem eigentlichen „Foyer“ der documenta15.

Auch die Vernetzungsarbeit z.B. mit Verwertungskollektiven in Deutschland die Materialien für Künstler sammeln und weitergeben findet sich in einem Raum in einem der vielen Ausstellungsorten wiederum eher zufällig. Das Einbeziehen von sozialen Initiativen aus Kassel dagegen fand sich besonders in einigen Standorten. Kassel ist voll von Engagement: Kulturzentren, mit Reparaturstuben, Flüchtlingshilfen, Gemeinschaftsgärten, Selbstorganisationen u.ä. sind in die documenta15 eingebunden. Mein besonderes Interesse fand das Zukunftsdorf 22 mit vielen Beispielen für eine zukunftsfähige Welt, das bei einem nongkrong im Vorfeld als Idee entstand.

Über 1000 KünsterInnen beteiligten sich an der Ausstellung. Die Frage, was mir am besten gefallen hat ist gar nicht so einfach zu beantworten, vielleicht ist ‚berühren‘ die bessere Frage.
Die Flüchtlingsinitiativen, die Versuche in unwirtlichen Gegenden zu leben, unter politischen Situationen zu überleben, sich davon zu befreien und die Ausdrucksweisen sind vielfältig, vielfältig, vielfältig. Das zu beschreiben ist in diesem Rahmen gar nicht möglich. Geht auf die Website der documenta15, lest das Handbuch oder kauft die Sonderausgabe der ‚Weltkunst‘ zur documenta (Spezial03, Sommer 2022).

Doch, drei Ausstellung seien erwähnt. In der ehemaligen Kirche St. Kunigundis stellen Künstler aus Haiti aus und die Schau ist von Tod und Zerstörung geprägt, was das Elend des ärmsten Landes der Welt für mich eindrücklich darstellt. Anders die Filmemacher aus Uganda, die in einem Slum mit viel Spaß (Action-)Filme produzieren, mit Einwohnern des Slums als SchauspielerInnen und mit dem Müll, der künstlerisch in die Kulissen eingebunden wird. Im ehemaligen Hotel Hessenland hat die Künstlergruppe madeyoulook aus Südafrika eine Holzlandschaft aufgebaut, die mit Texten und Tönen bespielt wird. Hier kann die Verbindung zu Gefühl und Raum entstehen. Ein meditativer Ort.

Mitgenommen habe ich, außer einem außereuropäischen Blick auf die Welt, dass Kunst heute im Sinne von Josef Beuys ganz praktisch die Gesellschaft gestaltet (soziale Plastik). Das Vernetzung vieles möglich macht und dabei die Möglichkeiten vervielfältigt. Und dass meine Arbeit und die der Vielen ganz in diesem Sinne verstanden werden sollte. „Wir“ (die Jugendzentren, BürgerInneninitiativen, Wandel-Projekte in Deutschland) haben viel gestaltet, damit Kunst geschaffen, Plakate, Filme, Grafiken – und vor allem RÄUME. Allerdings war mein Empfinden nach der documenta so, dass wir diese unsere Arbeiten nicht ausreichend würdigen. Auch wir brauchen Erinnerungsarbeit, Archive, Ausstellungen als Schritte auf dem Weg in die menschengemäße Zukunft.

Dieter Koschek
erschienen in jedermensch 704

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