September 21, 2020

Gemeinschaft Schloß Tempelhof

Eine lebendige Zukunftswerkstatt

Die Ökosiedlung Tempelhof ist eine seit 2010 bestehende basisdemokratische Gemeinschaft in Kreßberg im nördlichen Baden-Württemberg. Auf dem 30 Hektar umfassenden Dorfgelände wohnen fast 150 Einwohner.
Mitte Juli bin ich auf Einladung einer „gettogether“- Gruppe aus Vorarlberg mit vier andern nach Tempelhof gefahren. Ich hatte schon viel gehört, kenne verschiedene Personen, die dort waren oder auch dort leben, war aber noch nie selber dort. Also nutzte ich die Gelegenheit.
Wolfgang Sechser, einer der drei Gründerpionierinnen hat sich den Tag für uns Zeit genommen und uns herzlich begrüßt. In einer erster Runde haben wir uns kennengelernt und unsere Erwartungen formuliert. Die Vorarlberger hatten schon eine ganze Liste von Fragen erstellt, die wir im Laufe des Tage durchgingen. Doch zuerst haben wir die verschiedenen Teile der Gemeinschaft besucht und angeschaut. In der Gemeinschaftsküche, im Experimentellen Wohnen, in der Schule, in der Buchhaltung haben uns die jeweils gerade Aktiven begrüßt und uns die Projekte vorgestellt. Dabei war ich überrascht, wie fröhlich, offen und auskunftbereit alle waren. Der Rundgang übers Gelände wurde zu einer frohen Runde durch das Dorf. Denn tatsächlich ist das Gemeinschaftsprojekt ein Dorf. Zwei Mehrfamilienhäuser, Teile des Schlosses, das „Experimentelle Wohnen“ und ein Neubau bieten den 150 Menschen Platz zum Wohnen. Mittags gibt es ein vegetarisches Essen in der Kantine, gekocht in der Großküche des Projekts. Gerade wird ein riesiger Stadel zum neuen „Genusstempel“ umgebaut, mit neuer Küche und einer neuen Kantine. Dazu lädt die Gemeinschaft Menschen ein als Bauhelfer mitzuhelfen. So war es auch als das Earthship aus Altmaterialien gebaut wurde. Dutzende internationaler Bauhelferinnen wirkten dabei mit. Die Gemeinschaft ist offen und durch das Seminarhaus auch Treffpunkt vieler Menschen, die an einer nachhaltigen, gemeinschaftlichen Zukunft interessiert sind. Etliche der Gemeinschaft sind auch in Beratung von Gemeinschaftsinitiativen aktiv und helfen gerne.
Wolfgang Sechser erklärte uns, dass Schloß Tempelhof schon geschichtlich einem Bildungsruf folgte. Die Tempelritter, später die Kirche mit einer Bildungsstätte, und dieser Ruf nach Bildung ist auch heute ein Grundimpuls des Projektes: in der Spielgruppe, dem Waldkindergarten, der freien Schule und dem Seminarhaus ist das offensichtlich. Aber das Zusammenleben und -arbeiten selbst ist eine eigene Zukunftswerkstatt, deren Zwischenstände, Innovationen, Probleme und Konflikte immer reflektiert und zu neuen Formen im Zusammensein führen.
Auch im Tempelhof ist das gemeinsame Entwickeln von Werten und Visionen eine Grundvoraussetzung der Gemeinschaft. Spielregeln helfen dies sich im Alltag immer wieder ins Bewußtsein zu rufen. Wolfgang meinte auch, dass der eigene innere Ruf nach solch einem Leben die Grundlage sein muss. Doch hier ist die Vielfalt (nicht Beliebigkeit) ein wichtiger Impuls. Er wies darauf hin, dass die Gemeinschaft sich sehr offen versteht. Damit ist sie ein organisches Wesen, das sich den Menschen und Gegebenheit gemäß entwickeln kann. Der Mensch, jeder einzelne Mensch steht im Vordergrund.
„Alles, was wir hier lernen, lernen wir, weil irgendetwas sich handfest ereignet, irgendjemand in seinem Sosein Bedürfnisse, Fähigkeiten oder Nöte zeigt. Grundsätzlich muß man dazu einen Rahmen erzeugen, der es möglich macht, seinen Beitrag zum Gemeinwohl als Chance und Weg für die eigene Entwicklung zu begreifen und seinen selbstgewählten Platz auch als ‚Berufung‘ zu verstehen. Mir persönlich ist es dabei wichtig, daß wir hier ein lebensnahes Modell im Mikrokosmos ausprobieren und uns fragen, wie es möglich ist, mit ganz unterschiedlichen Menschen, also größtmöglicher Vielfalt, liebevoll, friedvoll, kreativ zusammenzuleben. So können wir wiederum mit unseren Erfahrungen dem Makrokosmos, der Gesellschaft dienen“, so Wolfgang in einem Interview im Jahre 2012.
Das zeigte sich nun besonders in der Corona-Krise. Das Landratsamt akzeptierte die Gemeinschaft als eine häusliche Gemeinschaft. Somit konnte die Gemeinschaft selbstverantwortlich mit der Situation umgehen. Abstand, Maske und Hygienemaßnahmen waren in die Verantwortung jedes Einzelnen gestellt. In mehreren Runden wurde das Vorgehen und das Miteinander abgestimmt. Die Schule und der Seminarbetrieb wurden geschlossen, aber das Gemeinschaftsleben ging wie in einer Familie mit großem Außenbereich weiter. In der Zeit wurde ein bikepark errichtet und die Kinder nutzen dies intensiv, was Außenstehende öfters dazu brachte Anzeige zu erstatten, weil ein Haufen Kinder lustvoll miteinander spielten.
Es gäbe noch sehr viel zu berichten: Über das Forum, den Wir-Prozess, über Formen der Entscheidungsfindung und Konfliktlösungen, über den Umgang mit Hierarchien, über die innere Strukturierung und vieles mehr.
Die Gemeinschaft ist sehr offen. Es gibt viele Seminare und Beratungsangebote. Und auf der Website ist viel zu finden über die Entwicklung und Stand der Dinge mit Presseartikeln, Filmen und selbstverständlich einem Newsletter.
Aus unserer Gruppe hatten alle Lust mehr Zeit in dem Projekt Tempelhof zu verbringen. Ich war dankbar, dass ich dieses Projekt endlich persönlich kennenlernen durfte und durch Wolfgang und die anderen viele Impulse mit nach Hause nehmen konnte. Mal sehen was wird.
Dieter Koschek
erschienen in jedermensch 696

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