September 21, 2020

Verantwortung praktizieren

Ich fühle mich unfähig, die aktuelle Weltlage zu verstehen. Die Redaktion des jedermensch bringt mich in die Krise. Ich sitze zwischen den Stapeln von Presseberichten mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Der Coronapandemie-Stapel ist zugegebenermaßen klein, hier dominieren die Aktionen der Corona-Rebellen. Wichtiger, mit viel mehr Beiträgen ist die Black Live Matter Bewegung (BLM). Und dort der Umgang mit der europäischen Kolonialgeschichte. Wir ehren hier mit Denkmälern, Straßen- und Häusernamen u.ä. die Gewalttäter des Kolonialismus (www.tearthisdown.com).
Dabei wird deutlich, was Pierre Bourdieu mit symbolischer Gewalt meinte. Die symbolische Gewalt ist in Denkmustern verankert. Sie schafft Einverständnis ohne explizite Zustimmung, Konsens ohne ausgesprochene Verhandlungen. Der Beherrschte ist jemand, der erkennt und anerkennt. Wir werden „einbezogen, eingegliedert und vereinnahmt.“
Gilt das auch für den Umgang mit Corona, der Pandemie, den Maßnahmen der Regierung und den Corona-Rebellen? Deren Anliegen sind teilweise ja gerechtfertigt, bzw. sollten wichtige Fragen schon gestellt werden. Dann wiederum verlieren diese Rebellen jedes Maß, erklären sich für die Wahrheit und verhindern freie Meinungsäußerungen, verhindern Berichterstattungen, kooperieren mit Faschisten und pflegen irre Verschwörungstheorien. Sie rebellieren, verlieren sich aber in den Wirrnissen der heutigen Zeit.
Ähnliche Phänomene bei den drei Wochen „Autonome Zone“ in Seattle, in der sich die BLM-Bewegung in der Innenstadt von Seattle festsetzte und die Polizei ihre Posten dort räumte. Auch dort berechtigte Forderungen: 1. 50 % weniger Geld für die Polizei, 2. finanzielle Unterstützung für schwarze Communities und 3. Freilassung aller Demonstrantinnen. Doch gibt es dort bewaffnete Patroullien, Obdachlose (die wegen dem täglichen Essen da sind), irre Jesus-Typen, bewaffnete Straßengangs und Machotypen. Es kommt zu sexueller Gewalt, und als zwei Nächte hintereinander Schüsse Todesopfer fordern, beendet die Bürgermeisterin mit Polizeigewalt die „Autonome Zone“. Extinction Rebellion hat mit ihren Protesten gegen die Auto- und Flugzeugmobilität meist die Wut der betroffenen Bürgerinnen hervorgerufen und die Bewegung Fridays for Future appeliert an die Politik, die die Klimakatastrophe mit verantwortet.
Es ist eine ungeregelte Vielfalt von Zukunft, Träumen, Analysen, Protest, Gewalt, Not, Irrsinn ohne Struktur und Inhalt und Egoismen.
„Wir, die Bewohner einer privilegierten Welt, sind in eine Atmosphäre der totalen Gleichzeitigkeit eingetreten, sehen alles, leiden unter einer Überdosis Weltgeschehen, schwanken zwischen Erregungserschöpfung, Panikschüben, Mitgefühl, Ignoranz-Sehnsucht. Dieses Gefühl der Überforderung ist das Stimmungsschicksal vernetzter Gesellschaften, die einen klug dosierten Umgang mit ihren Affekten noch nicht beherrschen. Es ist die Zeit der Bekenntnisse, der symbolischen Formeln. Was mir vor allem auffällt: die Aktualisierung einer Polarisierung, die man gerade noch für überwunden hielt“, sagt Bernhard Pörksen in einem taz-Interview Anfang März 2020. Jetzt, nach dem Lockdown ist diese Analyse noch aktueller geworden.
So bin ich mittendrin, wenn die Zukunft (nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit) ruft und wir nicht dafür bereit sind.
Die Millionen von Menschen, die diesen Ruf spüren, organisieren sich in ungezählten, weltweit in die hunderttausende gehende Bürgerinneninitiativen, NGOs, Bewegungen, Netzwerken mit organisierten Protesten und spontanen Widerstandsaktionen. Diese weltweit aktiven Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerke arbeiten – zumeist ohne große Beachtung durch die Medien – in unterschiedlichen Bereichen und Dimensionen am Aufbau einer lebenserhaltenden Zivilisation mit. Ich sehe drei unterschiedliche Aktionsfelder, die sich jedoch nicht trennen lassen sondern sich wechselseitig verstärken. Aktionen und Handlungen, um die Schädigung der Erde und ihrer Wesen zu verlangsamen. Die Analyse struktureller Ursachen und die Schaffung alternativer Strukturen. Einen Bewußtseinsprozess, der eine veränderte Wahrnehmung der Realität mit sich bringt. Ich habe alle drei Bereiche durchlaufen, wobei nichts fertig ist, aber eine gewisse Reihenfolge durchaus erkennbar ist. Der große Protestierer bin ich nicht mehr, mit der Untersuchung von Hintergründen und Alternativen bin ich täglich befasst und die Bewusstseinsbildung ist eine eher neuere innere Erfahrung für mich. „Die große Schwierigkeit, zugleich aber auch großartige Perspektive ist, hineinzuwachsen in ein menschheitliches Denken, Empfinden und Handeln. Ein solches Bewusstsein zielt nicht mehr darauf, alles in eine homogene Einheit zusammen zu bringen. Gegensätze und Widersprüche will es nicht mehr beseitigen. Sondern arbeitet damit. Denn wirkliche Verbindungen liegen in den Unterschieden. Ein menschliches Bewusstsein ist die Geisteshaltung von Weltbürgerinnen, die Verantwortung praktizieren, weil sie sich wieder in die Kräfte des Lebendigen einfühlen. Es ist offen zum Kosmos und der Erde verbunden. Es ist in dem Maße produktiv, wie äußeres und inneres Arbeiten ineinander greifen“, schreibt Hildegard Kurt zum Schluss ihres Buches „Wachsen! Über das Geistige in der Nachhaltigkeit“.
Das Handwerkszeug für diese Entwicklung müssen wir lernen. Das bedeutet für mich mit der oben beschriebenen Konfusion zu leben, in einen inneren Dialog damit gehen, überhaupt das dialogische Prinzip, also das Leben zwischen den Polaritäten zu üben.
Und dieser Weg ist unsicher. Ich kenne das Ziel nicht, ich verliere die Koordinaten, mein Ich wird in der Außensicht kleiner und innerlich gleichzeitig größer. Das Geistige in den Rufen der Zukunft muss erst gefunden, erlebt werden – und dann stehe ich möglicherweise alleine an der Grenze zwischen Außen und Innen.
Ich muss langsamer werden, mich ent-schließen, mich verlebendigen, prozesshaft werden und wandeln, in Beziehung sein, staunen und erahnen. Das Vermögen Unsicherheit, Ratlosigkeit, Gefühle des Ungenügend, Nicht-Wissen aushalten muß wachsen.
Wenn ich gegenwärtig bin und aufmerke, wenn ich durch betrachtendes Denken formende Kräfte erkenne, dann komme ich an den „vorderen Rand der Möglichkeiten“. Wenn ich diesen Weg alleine gehe, dann macht mir diese Perspektive erstmal Angst. Doch kann ich darauf vertrauen, dass diesen Weg mehr Menschen derzeit gehen, als ich mir vorstellen kann.
Mit diesen ist es nötig Kreise zu bilden und sich gemeinsam mit geteilten Werten der neuen Geisteshaltung anzuvertrauen, die durchlässig, offen, verbindend, resonanzfähig sein wird. Und was die offene Mitte des Kreises noch hervorbringt, werden wir sehen.
Ich hätte mir solche Gedanken früher nicht zugetraut, geschweige denn getraut zu schreiben und öffentlich zu sagen. Dass ich das heute ausdrücken kann verdanke ich vor allem der Gemeinschaft Eulenspiegel seit 35 Jahren, dem Erüben von Gemeinschaft, dem wiederholtem Scheitern, dem erneuten Versuchen. Hilfreich dabei ist das Lesen von Rudolf Steiner, Hildegard Kurt und anderen geistigen weisen Menschen, – darüber ichbezogen zu reden, was haben diese Weisheiten mit mir zu tun? – das Innehalten und das Gesprächen mit anderen Suchenden.
War früher der Protest, das Dagegensein wichtig, so ist mir heute die Frage, wie gehe ich mit den großen Fragen der Zeit um, wichtig. Muß ich protestieren, brauche ich äußere Alternativen oder suche ich nach den inneren Kern der Fragen, Dinge usw. So wie ich Impulse in mir trage, so können diese Fragen sich mir beim Horchen und Sinnen neue Möglichkeiten erschließen. Dann wieder darüber reden, neue Antworten bekommen und sich weiter auf die innere Suche begeben.
Ich bin unterwegs nach Süden und will weiter bis ans Meer.
Dieter Koschek
erschienen in jedermensch 696

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