April 2, 2021

Eine neue Kultur

Einen Kulturwandel mittragen

Der neue Kulturbegriff meint nicht die Kulturgüter, die wir handeln, besitzen, genießen und alle kennen. In Museen, Theatern, Events und Konzerten können wie diese heutige Kultur erleben, aber davon soll hier nicht die Rede sein. Der neue, erweiterte Kulturbegriff geht mehr auf das Wie ein, warum gebe ich etwas Bedeutung, wie stehe ich dazu in Beziehung, was schwingt in mir mit, wenn ich etwas sehe, tue oder erlebe? Das, was hier beschrieben werden soll, hat eher etwas mit einem „überindividuellen Relevanzgefüge“ zu tun, wie es Fabian Scheidler nennt. Kultur heiß hier „echte, geistig und emotional gefüllte Beziehungen zu einer realen Welt.“ (Fabian Scheidler: Die volle und die leere Welt, Edition thinkOya, 2019)

Viele in der Wandelbewegung berufen sich auf die Erkenntnisse der wechselseitigen Bedingtheit allen Lebens. Die Erde wird als lebendiger Organismus gesehen, in dem alles miteinander verbunden und voneinander abhängig ist und in dem jedem Lebewesen sein Eigenwert zukommt.

Gewollt ist persönliches Wachstum im Sinne eines “in-Beziehung-Seins” mit allem Lebendigen. Das Kulturverständnis ist eine Anleitung dazu, unser Handeln im Alltag in die Entwicklung von zukünftig anpassungs- und lebensfähigen Systemen und Prozessen hineinzustellen.

Die Initiativen liefern weder Rezepte, noch vermitteln sie ultimative Wahrheiten. Sie wollen neue Erfahrungsräume eröffnen, indem sie fragen, was und wer wir sind, woher wir kommen, wo unser Platz im größeren Zusammenhangs des Lebens ist und was unsere Verantwortung als Zeitzeug*innen und Zeitgenoss*innen in dieser Phase der Entwicklung ist.

Die Wandelbewegung steht heute vor allem für eine radikale Kritik an den Grundüberzeugungen unserer Kultur und Gesellschaft, unserer Politik, unserer Wirtschaft und unseres Erziehungssystems. Ihr Anliegen ist es, der Entfremdung der Menschen von sich selbst und von der Gemeinschaft aller lebenden Wesen der Erde entgegenzuwirken. Neu und einzigartig ist der ganzheitlicher Ansatz, der konzeptionelle, emotionale, spirituelle und praktische gesellschaftspolitische Arbeit in wechselseitigen Austausch miteinander bringt.

Alles Leben auf der Erde wird als ein großes sich selbst regulierendes System gesehen, das charakterisiert ist durch die wechselseitige Abhängigkeit aller Phänomene. Diese Sichtweise führt uns über die Grenzen des individuellen Selbst hinaus und läßt uns das entdecken, was wir das “ökologische Selbst” nennen. (Gesellschaft für angewandte Tiefenökologie: www.tiefenoekologie.de)

Zur Zukunft fähig werden
Im Grunde ist es nicht wirklich schwer zu verstehen. Wir haben uns in den Industrienationen einen Konsum- und Lebensstil eingerichtet, der so viele Ressourcen (Wasser, Land, fossile Energie, Bodenschätze, etc…) verschlingt, dass wir drei Planeten dafür brauchen würden um die Balance der Ökosysteme aufrecht zu erhalten. Drei Planeten haben wir aber nicht, wir haben eine Erde. So einfach ist es. Die Kunst wird es sein, die menschliche Kultur in Einklang mit der Erde, ihren Lebewesen und ihren Gaben (=Ressourcen) zu bringen, damit das Leben auf diesem Planeten weiter erblühen kann.

All die ökonomischen, sozialen und politischen Zusammenhänge auf denen unsere moderne Zivilisation beruht erscheinen so hochgradig komplex und unübersichtlich, dass viele gar nicht erst beginnen, nach Lösungen für die Herausforderungen zu suchen, vor denen unsere Welt nun steht.

Wir können gemeinsam neue Wege zu einem größeren „Wir“ beschreiten

Lebendige Konfliktkulturen ermöglichen ein wachsendes Miteinander
Grenzen und Gesetze können eine Möglichkeit zur Konfliktregelung darstellen. Sind diese Grenzen aber zu starr gesteckt, verhindern sie anstehende Veränderungen, sie blockieren den Ausgleich von Machtverhältnissen und die Integration. Um die Herausforderungen der Zeit zu meistern, braucht es weniger Grenzen und mehr lebendige Konfliktkulturen, welche offene Begegnung, Vertrauen und Bewegung ermöglichen. Es ist nötig, Räume für diesen Prozess zu öffnen, wie beispielsweise bei spielerischen Übungen im Kindergarten, im gemeinsamen Ethikunterricht an Schulen oder an eigens geschaffenen niederschwelligen Begegnungsorten in Gemeinden, wie dies in Vorarlberg beispielsweise in den Initiativen der Wandeltreppe bereits geschieht.
Lebendige Konfliktkulturen begründen sich auf Vielfalt und der Erfahrung von Verschiedenheit – im Guten wie im Schlechten. Um diese zu fördern, statt auf Wettbewerb zu den anderen setzen, brauchen wir horizontalere Bildungsräume, in denen Kinder jeglicher Herkunft voneinander lernen können, ihre eigenen Potentiale und auch Grenzen erforschen können und Vertrauen in sich selbst und ineinander entwickeln können. Unsere Vielfalt und die Möglichkeiten Konflikte aktiv friedlich auszutragen sollten wir bereits im Kindesalter erleben können. Gesetze, starre Verhaltensregeln und Grenzen ohne eine Konfliktkultur werden schnell zu einem brüchigen Ersatz für die direkte Auseinandersetzung. Die direkte Auseinandersetzung miteinander ist aber ein soziales Grundbedürfnis und die Grundlage der Demokratie. Es ist diese Konfliktkultur und Vertrauensbasis, die uns als Individuen und als Gesellschaft die nötige Grundsicherheit gibt, um Entscheidungen in einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Weise zu fällen, statt die Symptome der Angst zu bekämpfen. (Friedenswerkstatt Vorarlberg9

Aktives Zuhören und Verstehen wollen
Um ins Gespräch zu kommen ist ein Aktives Zuhören notwendig. Das bedeutet den/die Andere*n verstehen zu wollen: was will sie sagen? Wie denkt sie? Wenn es nicht von selber deutlich ist hilft hier als erstes das Nachfragen. Es geht also nicht darum dem Gesagten meine Position gegenüber zu stellen, auch nicht in der Diskussion recht zu haben, sondern die Gedanken des Anderen aufzunehmen und tatsächlich selber darüber nachzudenken. Wichtig ist hierbei auch selber offen zu sein, um Anderes, Neues aufnehmen zu können. Hilfreich ist ein Begegnen auf Augenhöhe mit gegenseitigem Respekt. Dazu hilft immer sich selbst nicht zum Maßstab zu machen, sondern eine Beweglichkeit zu erkennen und auch auszuleben. Denn in diesen Gesprächen müssen alle Ansichten ein gleichberechtigtes Nebeneinander zulassen.

Dann kann es zu direktem Erkennen und Spüren von weiteren Möglichkeiten gehen, ohne das ich dabei meine zurückstellen muss. Wenn es denn auf beiden, oder allen Seiten die ähnliche Grundhaltung gibt.

Kreiskultur und Offene Räume
Diese Haltung kommt in Gesprächskreisen zur Geltung. Alle sitzen nebeneinander, selbst die Initiatorin oder die Einladenden. Ich habe es schon erlebt, das eine der wichtigen Personen sich in der Einleitung soweit zurücknehmen, dass die selber ihre eigenen Tagesplanung in Frage stellen und die Anwesenden darauf aufmerksam machen, dass die Gestaltung des Tage die Aufgabe aller Anwesenden ist.

Die Offenheit zu gestalten ist möglich wenn es tatsächlich auch offene Räume gibt, an denen die Teilnehmen ihre Ideen, Vorstellungen, Fragestellung einbringen können, Gehört werden und Zeit für ein Gespräch angeboten wird. Hier hilft meist die Methode „Open Space“.

Natürlich gehört zu dieser Offenheit auch die Möglichkeit, das sich niemand für meine Ideen interessiert. Dann kann ich mich fragen, ob mein Anliegen keines für die anderen ist und warum nicht?

Achtsamkeit und Ethik
Eine quasi führungslose Begegnung fordert mich besonders heraus. Meine eigene Verantwortung für das Gelingen ist aktiviert. Ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und abwarten was kommt, sondern ich bin verbunden mit dem/der Anderen und dem Gesamtgeschehen. Im besten Fall werden alle die Gesprächsregeln einhalten oder auf die Einhaltung achten. Dazu gehört Aussprechenlassen, darauf achten das man aussprechen darf, dass das für alle anderen auch gilt, darauf hören ob man gehört wird, ohne das Gesagte erklären zu müssen. Daraus ergibt sich, das du das Wesentliche in Kürze zu sagen versuchst. Zuhören ob die Rednerin von sich selber spricht und nicht rezitiert, das eben zum Denken auch das Fühlen und Wollen (auch andersherum) erkennbar wird.

Mutter Erde
Dass die Menschen ein Teil des Universums sind wird deutlich, dadurch das bei Treffen u.ä. ein Teil der Natur in die Mitte gestellt wird. Das sind oft Pflanzen, Blumen, Steine oder auch eine Handvoll Erde. Durch diese symbolisch hergestellte Mitte wird auch deutlich, das nicht wir im Mittelpunkt sind, sondern etwas Höheres, Größeres. Dieses Positionieren verändert die Grundhaltung der Teilnehmenden. Es dreht sich nicht um mich, sondern um ein Ganzes, von dem ich ein Teil bin. Dadurch wird Verbundenheit deutlich, Verbundenheit mit etwas Universellem, der Erde und meinen Mitmenschen. Durch diese Positionierung bekomme ich auch ein Gefühl dafür, das es schon vieles gibt, vieles da ist, das ich nicht selber erfinden muss, sondern mich in Dankbarkeit darauf einlassen kann.

Beitragen
Die entstehende Energie der Gemeinschaft gibt jeder Einzelnen die Inspiration mit, ihren Weg zu finden und an der Bewegung für einen Kulturwandel teilzunehmen. Es wird spürbar zwischen Altem und Neuen zu sein.

Wichtig ist das Spüren nach dem Kommenden zu pflegen. Nicht Ideen in Formate zu stecken, sondern auch ein Gefühl für das Nicht-Gesagte, für das „Inderluftliegende“ zu entwickeln. Dabei sind Empathie und Einsicht wichtige Helfer.

  • Somit kann auch eine Idee, ein Nicht-Konkretes etwas sein, das sich gut anfühlt.
  • Ideen der Zukunft (offene Gemeinschaft leben)
  • auch das Private (der Haushalt) ist politisch
  • Liebe ist Interesse am Anderen zu haben
  • ins Gespräch kommen
  • das gemeinsame Erarbeiten von Ideen
  • trotz hohen Zielen eigene Schwächen kennen und daran arbeiten
  • selbstlos für die Idee leben
  • für sich selbst die volle Verantwortung übernehmen


In Konflikten die positive Seite des/der Anderen bedenken.
Wenn wir eine Institution kritisieren wird dabei deutlich, dass wir nicht unbedingt die Menschen in diesen Einrichtungen meinen. Dort gibt es immer Menschen mit denen wir reden können und die sogar Verständnis und Mitgefühl mit unseren Anliegen in sich tragen.

Der Kulturwandel führt in die Zukunft
Auf der heute herrschenden politischen Ebene finden wir eigentlich das Gegenteil von unserem Kulturbegriff. Keine der Parteien sind Partner, denn Parteien sind sehr weit von unserem Kulturbegriff entfernt. Dort finden wir bei allen von rechts nach links in vielen Fällen genau das Gegenteil. Klar ist dabei, dass wir hier die Struktur meinen und nicht die Menschen. In persönlichen Gesprächen, die nicht auf Rechthaben beruhen, lässt sich wohl bei vielen Beteiligten ein Gemeinsames finden.
Auf der Suche nach Modellen für ein gesellschaftliches System habe ich viele gefunden, aber kein Modell kann die Offenheit und Vielfalt unserer Bewegung widerspiegeln. Hier geht es um Einsichten, Werte und Haltungen.
In unseren Initiativen und Projekten der Wandelbewegung finden wir Prinzipien, die wir verallgemeinern können:
Freie Schulen und freie Medien sind Bespiele dafür, dass es um Freiheit geht. Alles Gedankliche, Geistige muss vom Prinzip der Freiheit geleitet werden. Das bedeutet, neben der Staatsschule sind neue pädagogische Formen zu entwickeln und gleichzustellen. Das bedeutet, dass weder Staat noch die Wirtschaft hier einen maßgeblichen Einfluss haben darf.
In der Forschung gilt ebenfalls das Prinzip der Freiheit, hier haben wir allerdings nur wenige Beispiele, die frei forschen und entwickeln können. Ein Beispiel vielleicht ist die erneuerbare Energie, die anfangs von ‘einfachen’ Menschen entwickelt wurde und sich dann zu einem wichtigen Feld entwickeln konnte.
Vielleicht finden sich ja in den „Scientists for Future“ Ansätze für eine freie Wissenschaft.
Viele Universitäten nennen sich frei, sind es aber nicht, sondern finanzieren ihre Forschungsprojekte mit Partnern aus der Wirtschaft. Zudem fördern ihre Strukturen fachspezifische Forschung bzw. Lehre.
Das bedeutet aber auch letztlich, dass die Ergebnisse der Bildungs- und Forschungseinrichtungen frei sein müssen und kein Privateigentum sein können. Das wird besonders deutlich im Gesundheitswesen, wo die Konzerne die Medikamente unter dem Prinzip der Profitmaximierung für sich beanspruchen.
In unseren Initiativen praktizieren wir ganz selbstverständlich das Prinzip der Gleichheit. Jeder hat das Recht seine Meinung in einer Gemeinschaft einzubringen und gehört zu werden. Entscheidungen werden nach dem Konsens- oder Konsent-Prinzip gefällt. Wenn sie denn nötig sind. Oft geschieht auch Delegation mit Eigenverantwortlichkeit. Auf einer größeren Ebene werden hier keine Hierarchien wie oft in Verbänden etabliert, sondern es werden Netzwerke gebaut und Bewegungen initiiert, die wiederum auf Augenhöhe agieren. Je größer die Einheiten werden, desto vielfältiger werden die Systeme. Kreise, in denen alle gehört werden und eine Entscheidungsform gefunden wird, gibt es in soziokratischen, holokratischen Formen. Ins Gesellschaftliche gesprochen ist es nötig, die Formen zu erweitern und vielfältige Methoden zuzulassen. Ich denke dabei an die vielfältigen Partizi-pationsformen und bevorzuge keine davon. Positiv erweisen sich Elemente, die übergreifend gestaltet sind, also Wissenschaftler, Politiker, aber auch Bürgerinnen mit einbeziehen. Arbeitsgruppen, Bürgerinnengutachten, Bürgerinnenräte und ähnliches helfen dann bei der Entscheidungsfindung.
Vor dem Recht müssen alle Menschen gleichgestellt sein. Andere Möglichkeiten gibt es nicht (auch wenn das Recht an vielen Stellen neu gefasst werden muss)!
Hier gibt es auch Ansätze für eine zukünftige Gestaltung unserer Erde. Es kann kein Privateigentum an der Erde, an Grund und Boden geben. Sie ist endlich und dient allen Menschen als Lebensgrundlage, des-halb benötigen wir ein anderes Eigentumsrecht, das nicht das (Privat-)Eigentum, sondern die Nutzung regelt.
Für viele Initiativen gilt das Prinzip der Bewahrung der Schöpfung. Der Gedanke der Verbundenheit mit allem führt dazu, dass ein achtsames und bewahrendes Umgehen mit der Natur die Grundlage unseres Handeln ist. Daher sind bei uns Unternehmen eingebunden, die ökologische Produkte gemeinwohlorientiert herstellen. Das heißt bei vielen Gruppen: die Produktion von Biolebensmitteln gemeinsam in die eigne Hand nehmen. Gemeinschaftsgärten und Solidarische Landwirtschaften zeigen hier eine Zukunft auf.
Andere Möglichkeiten sind oft Einzelunternehmen oder kleine Firmen mit mehreren Personen, die ihre Gesellschaftsform gemeinsam gestalten.
Schon der Grundgedanke der Bewahrung der Erde lässt erkennen, dass die Wirtschaft nicht frei sein darf, sondern sich Regeln auferlegen muss, die die Erhaltung der Lebensgrundlage garantieren.
Auch wenn unsere Firmen auf dem freien Markt agieren müssen, gilt hier das Prinzip der Kooperation
statt Konkurrenz.
Dieter Koschek
erschienen in jedermensch 695

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