Noch dauert die Corona-Pandemie an. In einem Beitrag in der Zeitschrift der Humanistischen Union „vorgänge“ (Nr. 233) vertritt Ingmar Kumpmann die These, dass das autoritäre Verhalten des Staates in Konflikt mit freiheitlichen Werten steht und wichtige Potenziale zur Eindämmung der Pandemie ungenutzt läßt.
Er bemängelt, dass es keinen Diskurs über abweichende Meinungen in ausreichendem Maß gegeben habe und sie stattdessen aus der öffentlichen Debatte gedrängt wurde. Dadurch sieht er eine Eingrenzung der Regierungskompetenz und als Reaktion eine Nichteinsichtigkeit in Teilen der Bevölkerung.
Er kritisiert weiterhin, dass die massiven Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens durch eine „informelle Zusammenkunft der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und -chefs der Bundesländer in sogenannten Beschlüssen festgelegt und anschließend in bloßen Verordnungen der Landesregierungen präzisiert und umgesetzt wurden“.
Leider schlägt er hier keine konkreten demokratischeren Umsetzungen vor, sondern sieht „eine große Aufgabe, die Grundrechte wieder in ihre grundlegende und die Politik bindende Rolle einzusetzen“. Da hätte mich eine nähere Ausführung interessiert.
Eine weitere Kritik ist die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Einschränkungen (zum Zwecke des Gesundheitsschutzes) und die Vernachlässigung des Gesundheitsschutzes im Erwerbs-Arbeitsleben. Hier sieht er Lobbyinteressen am Werk.
Der Text ist für mich insgesamt nicht schlüssig. Die Argumentation ist teilweise nachzuvollziehen und gibt wertvolle Anregungen, allerdings läßt er immer wieder die Gefahrenlage aussen vor, z.B. wenn er die freiwilligen Maßnahmen zum Schutz vor Aids (Safer Sex) als Beispiel anführt, wie die Regierung in der Pandemie auch agieren könnte. Die Aidsbekämpfung sei erfolgreich gewesen, weil sie nicht mit Vorschriften und Drohungen bzw. Strafen einherging, sondern mit Argumenten und im Geist der Solidarität kommunizierend.
Hätte denn die Regierung mit dem Verbot von Geschlechtsverkehr reagieren können?
Kumpmann argumentiert kritisch weiter, dass die Infektionsnachverfolgung nur durch die Gesundheitsämter vorstellbar war. Eine kontrollierende und strafende Behörde werde bei vielen Menschen nicht mit Kooperation rechnen können. Für mein Empfinden war ich dankbar dafür, dass ich eine solche Aufgabe nicht selber übernehmen mußte. Ich stelle mir vor, mein Selbsttest ist positiv und ich muß meinen Kolleginnen und Freunden mitteilen, sich testen zu lassen und sich abzusondern. Eine Aufgabe, die ich mir so nicht vorstellen konnte. Ob sich meine Kontaktpersonen dann auch in Isolation begeben hätten, bleibt zudem offen.
„Aus der Kombination von Selbsttest mit der Möglichkeit, eigenständig Infektionsketten nachzuverfolgen, ergibt sich die Chance, dass durch Selbstorganisation der Menschen ein wichtiger Beitrag geleistet wird, um einen Teil des Infektionsgeschehens zu diagnostizieren und einzudämmen.“ Das haben wir in kleinem Kreis auch so gehandhabt, allerdings waren wir immer froh, wenn die folgenden PCR-Tests negativ waren. Wie es bei positivem Ergebnis weitergegangen wäre, wage ich nicht vorherzusagen. Alles ist möglich.
Also, um es klar zu sagen, glaube ich, dass die meisten der Argumentationen Kumpmanns auf Illusion beruhen.
Eine Selbstorganisation der Menschen ist zu wünschen, aber ohne eine umfassende Bildung und Aufklärung und der entsprechenden Möglichkeit, diese einzuüben, ist nicht einfach in Krisenzeiten davon auszugehen. Hier liegt sicher eine Aufgabe der Gesellschaft, diese Selbstorganisation zu ermöglichen. Das wünsche ich mir mehr als alles andere, aber meine Erfahrungen mit Selbstorganisation und Selbstverwaltung sind so, dass diese Prozesse Zeit brauchen. Und hier zu einem zeitnahen Handeln zu kommen (bei einer hochansteckenden Infektion mit manchmal tödlichem Verlauf) ist schwer.
Kumpmann hat sicher Recht, wenn er unserer Regierung diese Absicht einer Ermöglichung einer Selbstorganisation der Gesellschaft (wir sind immerhin 80 Millionen, bei der weltweiten Pandemie sind es immerhin rund 8 Milliarden) abspricht. Das tue ich auch. Hier greifen wieder jahrhundertelange Erfahrungen von obrigkeitsstaatlichem Handeln von Gott und Kirche, über Kaiser und Könige bis hin zu Zeiten faschistischer Diktaturen. Freie Menschen, die solche Probleme in Selbstorganisation lösen können, sind wir noch nicht. So leid mir diese Einsicht tut. Abhängigkeiten, Emotionen, Egoismen, Traumata und Ängste, (um nur einiges zu nennen) stehen dieser Freiheit entgegen. Erfreulicherweise gibt es viele Initiativen und Bewegungen, die Möglichkeit dieser Selbstorganisation fordern und auch in Teilen versuchen, sie zu leben. Doch stehen diese meist im Gegensatz zu den staatlichen Einrichtungen bzw. den Mächtigen heute und den Institutionen des sogenannten freien Marktes. Daraus ergeben sich eher Widersprüche als erwünschte Handlungen.
Um Selbstorganisation zu ermöglichen, ist auch eine Gleichsetzung von freien, alternativen Schulen mit der Staatsschule notwendig. Unabhängige, freie Hochschulen mit freier Forschung, Lehre und Entwicklung braucht es dazu. Eine freie, kapitalunabhängige Presse ebenso wie Bürgerradios und -fernsehen.
Und eine dialogische Debattenkultur, die Zuhören und Verstehenwollen in den Vordergrund stellt.
Und eine kommunale und regionale Selbstverwaltung, die mehr macht, als über Baugebiete zu entscheiden, ist noch weit weg, aber dringend notwendig.
Das alles kann aber nicht funktionieren, wenn der Profit und der Eigennutz vor dem Gemeinwohl stehen. Hier sind umfassende Rechtsreformen nötig und die Verfügung über Boden und Kapital muß gesellschaftlich neu geregelt werden.
Um zu der gewünschten Selbstorganisation der Menschen zu kommen, braucht es also mehr als nur unsere Wünsche und Vorstellungen. Es braucht gesellschaftliche Veränderungen.
Und welche freiheitlichen Werte meint Kumpmann denn in seinem Beitrag? Die Einschränkungen durch die Infektionsschutzverordnungen sind natürlich eingreifend, aber sind es tatsächlich Grundrechte, die eingeschränkt wurden? Reisefreiheit? Versammlungsfreiheit? Recht auf Vergnügen und Konsum? Recht auf Unhygiene? Wenn wir das „autoritäre Auftreten“ des Staates so verstehenn, dass damit das Recht auf körperliche Unversehrtheit, also das Leben geschützt werden soll, dann stehen wir sicher in einem Konflikt mit Reise- und Versammlungsfreiheit. Diese wurde immer wieder zurückgenommen bzw. angepaßt. Auch muß ich meine Rechte immer in Verantwortung gegenüber dem Ganzen / den Anderen / dem Mitmenschen ausüben.
Als selbstverantwortlicher Mensch (in Selbstorganisation) tue ich das immer wieder und auch Kumpmann findet ja die eigenverantwortliche Selbstbeschränkung gut. Aber einer gesellschaftlichen Instanz wie Regierung und Staat gesteht er diese nicht zu? Wie sieht es mit Polizei und Strafen aus? Auch ich befürworte eine Abschaffung der Strafen und Gefängnisse, bei gleichzeitiger Einführung von Täter-Opfer-Ausgleichs-Verfahren, bei Sanktionen, die eine Entwicklung ermöglichen. Dies erfordert aber ebenso weitergehende Veränderungen auf wirtschaftlicher Ebene. Wenn Millionen von Menschen in Unsicherheit leben müssen, ob das Einkommen reicht, wenn Menschen von diesen Einkommen ausgeschlossen werden (Asylanten, Arbeitslose, Hartz IV-EmpfängerInnen, JobberInnen, usw.) oder die Einkommensmöglichkeiten mit unwürdiger Lohnarbeit, sinnlosen oder widersinnigen Arbeiten verbunden sind – dann ist es müßig von eigenverantwortlicher Selbstorganisation zu reden.
Also gehen wir Schritt für Schritt in diese Zukunft. Kritisieren wir unsinnige oder widersinnige Maßnahmen der Pandemiebekämpfung (hoppla, das müssen wir erst gesellschaftlich ausdiskutieren), suchen wir den Dialog (nicht den Diskurs, nicht die Diskussion, nicht das Rechthaben) zwischen allen Menschen auf allen Ebenen, suchen wir Lösungen, die menschengerecht und sozial bleiben bei einer Gleichbehandlung aller gesellschaftlichen Gruppen. Respektieren wir Freiheit in Verantwortung, wo Gesundheitsschutz und Menschenwürde Platz haben. Respektieren wir Ängste und Wünsche nach Sicherheit genauso wie Eigenverantwortung und andere Wege.
Versuchen wir, gesellschaftliche Institutionen zu finden und zu bilden, in denen „Ansätze“ für eine Selbstorganisation entstehen können und eingeübt werden können.
Auch nach eineinhalb Jahren Pandemie ist dies alles nicht leicht. Es eskalieren alle Unsinnigkeiten, Widersprüchlichkeiten, politische Wege, Ideologien, Gegnerschaften, Empfindlichkeiten, Egoismen bis hin zu Ausgrenzungen, Trennungen, Streit, Haß und Gewalttaten. Es hilft nur Ruhe, Langsamkeit, eine innere Ausgeglichenheit und Demut, die Bereitschaft den Blickwinkel zu ändern, andere Ansichten zu respektieren oder auszuhalten, ein Innehalten zu versuchen und gemeinsam durch diese Pandemie zu kommen.
Und das ist richtig schwer.
Dieter Koschek
erschienen in jedermensch 701