Ich finde das Virus höchst gefährlich. Ich zähle die Toten und die Menschen auf den Intensivstationen gar nicht mehr. Wir haben keine Medikamente und keine Impfstoffe dagegen. Das reicht mir, um die Maßnahmen im Umgang mit dem Virus zu akzeptieren, auch wenn es dabei viele Widersprüche gibt und viel Unverständliches passiert. Die Politik ist mit dem Virus das erste Mal konfrontiert und muss in aller Eile Maßnahmen treffen, dass nicht noch viel mehr Menschen sterben. Wer sonst soll solche Maßnahmen treffen? Ich denke, dass sie nötig sind.
Ich sehe keine Grundrechte abgeschafft und finde es nicht schlimm – den Mund- und Nasenschutz zu tragen. Die Grundrechte sind bei Orban, Trump, in Brasilien, in Honduras, in Indien, in China in Gefahr. Und die Folgen für die Armen auf dieser Welt zeigen die Verletzlichkeit der Weltordnung.
In Deutschland und Europa wurden drastische Maßnahmen gesetzt, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, um das Gesundheitssystem zu erhalten. Vielleicht ist das gelungen, das mag ich aber noch nicht beurteilen. Ich beobachte in Ländern, wo das nicht so schnell oder nicht so umfassend passiert ist, eine wesentlich höherer Sterblichkeit.
Doch auch in Corona-Zeiten ist keine Ungerechtigkeit in dieser Welt legitimiert, die Umweltzerstörung schreitet voran und auch daran sterben Menschen. Und der Klimawandel bedroht uns alle.
Darüber müssen wir diskutieren und uns auseinandersetzen.
Die Folgen der Wirtschaftskrise, die so langsam die Fahrt aufnimmt, werden uns vermutlich noch länger beschäftigen. Aber wer will das abwägen und beurteilen. Hier gibt es ja viele gute Vorschläge, wenn der Staat schon die wirtschaftlichen Folgen abfedern muss. Kein Weiter so wie bisher ist nötig, sondern Förderungen, die einen Kultur- und Wirtschaftswandel möglich machen.
Statt zu schimpfen und seltsame Weltbilder zu konstruieren, sollten wir Fragen stellen. Ich stellte mir die Frage, wie denn eine Gesellschaft ohne staatliche Maßnahmen auf solch einen Virus reagiert hätte? Das war mir schon zu schwer. Hätten wir ein besseres Gesundheitswesen, das öffentlich verwaltet wird und nicht der Kosteneffizienz unterliegt? Hätten wir ein Wirtschaftswesen, das auf Kooperation und Bedürfnisbefriedigung beruht? Wenn wir die Hätten-Fragen positiv beantwortet haben, dann hätte ich mich vermutlich auf die Selbstverantwortung und die Selbstbestimmung freier Menschen in Verantwortung verlassen. Aber das haben wir (noch) nicht.
Daraus erwächst ja auch schon eine weitere Frage. Welche Möglichkeiten haben wir, eine solche „bessere“ Gesellschaft zu erreichen? Erwachsen aus der Krise neue Möglichkeiten? Sehen wir unsere Verbundenheit mit der Natur?
Ich werde mein Augenmerk auf das neue Unbekannte richten: auf die Solidarität unter Nachbarn, auf den Rückgang des Verkehrs und des Konsums, auf die Selbstverantwortung aller Bürger*innen, auf die Entwicklung unseres Schul- und Bildungswesen, auf die Vorteile einer regionalen Versorgung durch Lebensmittel und anderer „systemrelevanten“ Dinge und auf eine Vorsorgepolitik gegenüber dem nächsten Virus.
Das Prinzip ist ja bekannt. Es wird Postwachstumsökonomie genannt. Die Coronazeit zeigt ja schon in diese Richtung. Wir haben wieder Zeit gehabt und das Zusammenleben hat stellenweise gut funktioniert mit Achtsamkeit, Rücksicht und Solidarität. Produktion, Konsum und Mobilität waren reduziert, die Wichtigkeit von regionalen Wirtschaftskreisläufen deutlich sichtbar.
Es sind auch Knackpunkte sichtbar geworden: Die Menschen können damit meist nicht umgehen, dass sie plötzlich Zeit haben, dass Konsum als Kompensation funktioniert, dass Ruhe und Stille etwas Gutes haben.
Wir haben nun die Möglichkeit uns langsamer und mit Plan auf diese Zeit vorzubereiten – und da muss sich auch der Schulstundenplan ändern. Wir müssen wieder lernen mit uns selbst zurecht zu kommen.
Blicken wir liebevoll nach Vorne.
Dieter Koschek
erschienen in jedermensch 695