Das Manifest für den Frieden in der Ukraine, initiiert von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, wird von den Mainstream-Medien gleichmütig abgelehnt und zerrissen. Selbst der Faktenchecker der ARD oder der taz-Kommentator Jan Feddersen üben vernichtende Kritik am Manifest für Frieden. Doch die Kritik ist nicht nachzuvollziehen, zumal sie erschreckend ideologisch ist. Es wird Falsches unterstellt, Nichtgesagtes wird kritisiert, andere Meinungen als Gegenbeweis zitiert usw. Ein erschreckendes Bild des deutschen Journalismus und der Medien. Keine Auseinandersetzung mit dem Manifest auf sachlicher Ebene. Vielleicht ist es ja auch nicht möglich, hier sachlich zu argumentieren, doch das sollte zumindest eingeräumt sein.
Ich habe erst durch die Kritik vom Manifest erfahren und es dann gelesen. Es sei hier in ganzer Länge dokumentiert, damit ihr euch selber eine Meinung bilden könnt:
„MANIFEST FÜR FRIEDEN
Heute (10. Februar 2023) ist der 352. Kriegstag in der Ukraine. Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.
Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch? Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges? Die deutsche Außenministerin sprach jüngst davon, dass ‚wir‘ einen ‚Krieg gegen Russland‘ führen. Im Ernst?
Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen? Noch versichert der deutsche Kanzler, er wolle weder Kampfjets noch ‚Bodentruppen‘ senden. Doch wie viele ‚rote Linien‘ wurden in den letzten Monaten schon überschritten?
Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt. Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg? Es wäre nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat. Aber es wäre vielleicht der letzte.
Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. Warum dann nicht jetzt? Sofort!
Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!
Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken. Doch wir können und müssen unsere Regierung und den Kanzler in die Pflicht nehmen und ihn an seinen Schwur erinnern: ‚Schaden vom deutschen Volk wenden‘.
Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.“
Sahrah Wagenknecht, Alice Schwarzer
Und es folgen rund 70 weitere Erstunterzeichner. Im Internet haben über 500 000 Menschen das Manifest unterstützt.
Nachdem ich es gelesen habe, konnte ich die Kritik nicht teilen. Ein Waffenstillstand ist in jedem Falle ein Gewinn für die Menschen.
Nun ja, die Angst vor dem 3. Weltkrieg teile ich nicht, denn den kann keiner gewinnen, und so denke ich, wird ihn auch keiner vom Zaun brechen. Auch Russ-land nicht. Aber Kriegsausbrüche sind oft irreal und folgen unlogischen Zwängen und Zufällen. Ganz auszuschließen ist der „worstcase“ nicht, aber wie gesagt, ich glaube nicht daran.
Auch glaube ich nicht daran, dass die Ukraine, auch mit Unterstützung des Westens den Krieg gewinnen kann, geschweige denn die Krim zurückerobern kann. Ich halte den Konflikt heute für einen stehenden Krieg. Weder kann Russland weitere Gebietsgewinne verbuchen, noch kann die Ukraine Offensiven starten. Es ist Zeit für Verhandlungen über einen Waffenstillstand.
Anzuerkennen ist, dass die Ukraine den Putin’schen Blitzkrieg und Einvernahme der Ukraine mit Waffen verhindert hat, ebenso dass sie den Vormarsch der Russen im Osten im Wesentlichen gestoppt hat. Mit viel Unterstützung des Westens.
Ein Waffenstillstand und Verhandlungen über einen Frieden bedürfen logischerweise der Zustimmung aller Kriegsparteien. Dass das nicht in den Händen der deutschen Bürger und Bürgerinnen liegt, ist klar auf der Hand. Das Manifest fordert auch nicht die Kapitulation der Ukraine, sondern richtet sich im Wesentlichen an die Bundesregierung, für Verhandlungen sich einzusetzen, ohne den Krieg mit weiteren Waffenlieferungen zu verschärfen.
Das bedeutet aber auch, dass Russland als Aggressor seinen Angriff abbricht und sich ebenfalls an den Verhandlungstisch setzt und dass die Waffen in der Zeit ruhen. Das wäre allein für die Menschen der Region ein Gewinn. Die von Russland besetzten Gebiete sind überwiegend zerstört und die Bevölkerung zu großen Teilen geflohen. Ein Waffenstillstand wäre auch hier von großer Bedeutung. Russland zerstört mit Raketen– und Drohnenangriffen die zivile Infrastruktur der Ukraine, was den Widerstandswillen der Ukrainer*innen stärkt, aber wie lange noch? Ein Waffenstillstand wäre hier ebenfalls ein Gewinn für die Menschen.
Für Friedensverhandlungen kann es keine Prognose geben. Das wird ein schwieriger und langer Prozess sein, in dem geostrategische Überlegungen, die Nato, die Amerikaner und viele andere sich einmischen werden. Bei allen vorstellbaren Kompromissen wird der Konflikt weiter schwelen, solange die tieferliegenden Ursachen nicht geklärt sind: Wer sich von wem bedroht fühlt, wer sich warum auch immer verteidigen will, wie die Geschichte interpretiert werden wird und wie mit Gegensätzlichkeiten umgegangen werden wird. Hier einfach zu sagen, die Russen müssen ihre Aggression stoppen und sich aus der Ukraine zurückziehen und die besetzten Gebiete räumen (einschließlich der Krim), mag ja „moralisch“ richtig sein, aber es ist unrealistisch.
Für meine pazifistische Überzeugung wäre ein Waffenstillstand die beste momentane Lösung. Und ich bin deshalb keine Partei, zumal mein Einfluss auf die geostrategischen Ursachen des Konflikts gering ist. So ist das Manifest für den Frieden ein Schrei nach dem Waffenstillstand, der Menschenleben retten wird.
Sicher, es mag im Moment illusorisch erscheinen, aber alle Erfolge der Zivilgesellschaft gegen die Militaristen und Bellizisten fangen im Kleinen und Unscheinbaren, im Erfolglosen an.
Wie auch immer, die Menschen in der Ukraine brauchen unsere solidarische Unterstützung, durch Hilfsgüter, durch die Aufnahme der Flüchtlinge hier, durch Förderung der Zivilgesellschaft in der Ukraine und in Russland, durch Strategien des gewaltfreien Widerstandes, durch Unterstützung der friedlichen Proteste gegen den Krieg in Russland, durch diplomatische Initiativen und vieles andere mehr.
Und durch ein Manifest für Frieden aus Deutschland.
Dieter Koschek
erschienen in jedermensch 706