Mitten im zweiten Stillhalten in Österreich flattert ein Manifest auf meinen Tisch. Es ist nicht neu, aber erneuert. „Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-neoliberale Welt“.
Wir leben in einer seltsam verrückten Zeit. Die Klimakatastrophe macht sich zunehmend deutlich bemerkbar. Unwetter, Trockenheiten, Eisschmelze und ähnliches dürfte inzwischen vielen Bewohnern dieser Erde bekannt sein. Dass die Corona-Pandemie viele Schwachstellen im westlichen Wohlstandsmodell aufzeigt, kann beunruhigen. Die globale Arbeitsteilung wackelt, sie gibt keine Sicherheit mehr, regionale Ernährungssouveränität und Gesundheitskonzepte haben Konjunktur. Die Verteilung der Impfstoffe machen die Hegemonien der reichen Länder deutlich. Corona-Rebellen haben neben ihren verrückten Fantasien auch die Schwachstellen unsere Demokratien aufgezeigt. Bürger*innenräte und mehr Demokratie kommen in Reichweite.
Eine Mehrheit der schweizer Eidgenoss*innen fordert von den Konzernen Verantwortung für ihre Lieferketten.
Rund 300 Intellektuelle und Akademiker auf der ganzen Welt versuchen in einem Schreibspiel die neue schönere Welt zu erfassen, in Worte zu fassen. Die neue Kunst des guten Zusammenlebens.
Das erste Manifest von 2013 hat mich schon sehr angesprochen, doch es ist im Bücherregal schon wieder vergessen worden. Sie nennen das Neue „Konvivialismus“, das Google mit Geselligkeit übersetzt. Trotzdem erweitert es den Slogan „Ein gutes Leben für alle“ um den sozialen Aspekt. Es geht um ein gutes Zusammenleben!, was es mehr trifft. Nicht nur jede*r soll ein gutes Leben haben, sondern wie müssen auch das Zusammenleben der bald 10 Milliarden Erdenbürger*innen friedlich und gerecht gestalten.
Ich brauch ja nicht aufzählen, was alles schief läuft in dieser Welt. In dem Diskurs um das Coronavirus werden ja die jeweiligen Opfer anderer Schandtaten der Menschheit gegengerechnet.
Die Millionen hungernden und verhungernden Kinder seien nur mal erwähnt.
Was ist mit uns los? Wir hören die Zahlen und empören uns nicht mal mehr. Die Politik hat uns eingelullt und wir sind schon froh, wenn es uns gelingt, nach alter Pfadfindertradition, eine gute Tat am Tag zu tun. Das ist gut für unser Gewissen und für unser Karma, aber hilft es wirklich weiter? Was muss passieren, damit wir für und mit dene Armen und Benachteiligten dieser Welt auf die Straße gehen?
Der Konvivialismus empfiehlt Entrüstung gegenüber den Ungerechtigkeiten dieser Welt. So das die Täter Scham empfinden können. Oder zumindest ich mich fremdschäme.
Es gibt eine große Zivilgesellschaft mit Protesten und Initiativen, Projekten und Verbänden, Netzwerken und Vereinen bis hin zu grandiosen sozialen Bewegungen, wie MST, Friday for future, #metoo. Die Proteststürme in Arabien oder Osteuropa dieses erst kurzen Jahrhunderts bewegen die Welt.
Und doch, so vermuten die Unterstützer des 2. konvivialistischen Manifestes fehlt etwas, so eine Ahnung von einer Philosophie, einer politischen Philosophie einer neuen, schöneren, (anderen) Welt, die unsere Herzen schon kennt (Ch. Eisenstein).
Fünf Prinzipien und ein Imperativ haben die Autoren ausgemacht.
- die gemeinsame Natürlichkeit
Wir wissen es ja, wir sind mit allem verbunden, jede Mücke trägt zum Gelingen des Planeten Erde bei, das Wesen Gaia beruht auf einen hervorragenden Zusammenspiel aller krafte dieser Erde. Nur die „intelligentestenn“ Wesenheit, der Mensch, hat das noch nicht wirklich begriffen. Es gibt nicht Natur, die wir mit unserer Kultur „beherrschen“ können. Es gibt nur ein verantwortungsvollen Gemeinsam. Es gibt nur eine Welt. - die gemeinsame Menschheit
Auch das ist ja bekannt: Jede Frau und jeder Mann hat das gleiche Recht auf Leben, unabhängig von den Unterschieden der Hautfarbe, der Nationalität, der Sprache, der Kultur, der Religion oder des Reichtums, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung Es gibt nur eine Menschheit - die gemeinsame Sozialität
Wir Menschen sind soziale Wesen, deren größter Reichtum in den konkreten Beziehungen besteht, die wir zueinander im Rahmen von Vereinigungen, Gesellschaften oder Gemeinschaften unterschiedlicher Art und Größe unterhalten. - die legitime Individuation
Und wir sind Individuen, die sich entfalten und entwickeln wollen in Freiheit, indem wir unsere Fähigkeiten entfalten, unser Vermögen zu sein und zu handeln, ohne anderen zu
schaden und mit Blick auf eine für alle gleiche Freiheit.
- den schöpferischen Konflikt
Weil jede/r Einzelne berufen ist, ihre bzw. seine besondere Individualität zum Ausdruck zu bringen, ist es normal, dass wir miteinander opponieren. Aber das dürfen wir nur tun, solange es den Rahmen der gemeinsamen Menschheit, der gemeinsamen Sozialität und der gemeinsamen Natürlichkeit nicht gefährdet, sodass die Rivalität schöpferisch ist und im Dienst des Gemeinwohls steht.
Und weil das noch nicht ausreicht, weil wir auch mal Meister sein wollen und nicht immer nur Knecht gibt es noch einen querliegenden, einen kategorischen Imperativ:
- nämlich die Hybris zu beherrschen.
Hybris, welche Hybris? Die Maßlosigkeit, das Allmachtstreben, das Bessersein auf Kosten der Anderen. Denn jedes oben genannte Prinzip, das bis zum Extrem getrieben und nicht durch die anderen abgemildert wird, läuft Gefahr, sich in sein Gegenteil zu verkehren: die Liebe zur Natur oder zur abstrakten Menschheit in einen Hass auf konkrete Menschen; die gemeinsame Sozialität in Korporatismus, Klientelismus, Nationalismus oder Rassismus; die Individuation in einen anderen gegenüber gleichgültigen Individualismus; den schöpferischen Konflikt in einen Kampf der Egos, einen Narzissmus des kleinen Unterschieds oder zerstörerische Konflikte.
Die Bewegung für den Konvivialismus ist klein und steht am Anfang. Vielleicht täuschen wir uns ja auch und die Sozialen Bewegungen der Welt sind noch nicht soweit, ein Verständnis für die Prinzipien zu haben. Angst muss man jedoch nicht davor haben. Auch wenn sich die Herausgeben „Die konvivialistische Internationale“ nennen, ist keine neue Partei geplant, sondern eine weltweite Vernetzung bestehender politische Gruppen, die sich vielleicht ein gemeinsames Logo, ein Wiedererkennungmerkmal geben und entsprechend der Prinzipien Forderungen an die Zukunft stellen.
Dieter Koschek
erschienen in jedermensch 698