Wir waren in der Pinakothek der Modernen in München. Dort vollzogen wir den Rundweg durch die Kunst der 20. Jahrhunderts. Begonnen mit der Brücke, den Wilden, dem Blauen Reiter bis zu Kunst der Gegenwart, einer Ausstellung Feelings, deren Werke nicht gekennzeichnet waren, sondern den Betrachter auffordern, auf seine/ihre Gefühle zu achten.
Ich lese den Blauen Reiter-Almanach, Kandinskys „Über das Geistige in der Kunst“ und spüre nach, was es denn war, was die Klassische Moderne ausmacht. Das Neue, die Abstraktion, Die Forderung nach Freiheit der Form, Freiheit von der Akademie der Künste, zu malen wie ich will.
Und später das Nachspüren über die schaffenden Bildekräfte, die Erschaffung neuer Welten, neuer Perspektiven….
Beuys setzte Ende der 60er Jahre einen neuen Akzent. Alles ist Skulptur, Jeder ist ein Künstler, der erweiterte Kunstbegriff, die Soziale Skulptur.
„Mich inspiriert von Anfang an und immer noch die Art, wie Beuys in den 1970ern über Gesellschaft, den Menschen und unsere zukünftige Aufgabe in Beziehung zum Kunstschaffen gesprochen hat. Die Theorie der „Sozialen Plastik“ nach Joseph Beuys besagt, jeder Mensch könne durch kreatives Handeln zum Wohl der Gemeinschaft beitragen und dadurch plastizierend auf die Gesellschaft einwirken. Aus dieser Vorstellung entstand die viel zitierte These der „Sozialen Plastik“: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, die Beuys erstmals 1967 im Rahmen seiner politischen Aktivitäten äußerte. Dem fügte Beuys seine Vorstellung hinzu, dass jeder daran teilnehmen kann, das Leben, insbesondere in Politik und Wirtschaft sozial und kreativ zu gestalten. Beuys ging davon aus, dass die notwendigen Fähigkeiten zur Verwirklichung einer Sozialen Plastik – er sprach hierbei oft von einem „Sozialen Organismus” – Spiritualität, Offenheit, Kreativität und Phantasie seien, die in jedem Menschen bereits vorhanden sind. Diese Fähigkeiten müssten nur erkannt, ausgebildet und gefördert werden.
Nach Beuys erhält jeder Mensch mit der Forderung der sozialen Plastik die individuelle Freiheit, innerhalb der Gesellschaft zu handeln; somit sei der Einzelne auch für die gesamte Gesellschaft verantwortlich. Die Soziale Plastik bringe die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft und insbesondere die Probleme einer Gesellschaft, wie vor allem die militärische Bedrohung, die ökologische Krise oder die Probleme der Wirtschaft, durch eine kreative Gestaltung und Mitverantwortung in eine inhaltliche Überschneidung, die einen „gesunden“ Austausch ermöglichen könne.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der mit dem Verständnis der „Sozialen Plastik“ erweiterte Kunstbegriff seinerseits nichts Feststehendes bezeichnet und einen Übergang vom Werk zum Ereignis beschreibt. Er äußert sich in seiner sozialen Wirkung und beinhaltet unsichtbare Prozesse wie Dialog und Kommunikation, das Relationale also im weitesten Sinne.“ so Susanne Bosch in einem Interview. (https://www.kubinaut.de/de/themen/1-alle-alles-partizipation/susanne-bosch/)
Und in einem Interview 2015 mit mir: „Jedes Kunstwerk ist nur dann Kunst, wenn es in einen Dialog mit einer/m BetrachterIn tritt, so sagte das bereits Marcel Duchamp. Diese Kommunikation zwischen BetrachterIn, Werk und eventuell dem/der ErschafferIn des Werkes ist per se eine soziale, da es um ein Sender-Empfänger-Prinzip geht.
Partizipative Kunstformen sind Kunst an gesellschaftlichen, wissenschaftlichen oder politischen Schnittstellen. Als Schnittstellenaktivität verhandelt sie ständig die Grenzen der Kunst zum Leben. Jede avantgardistische Kunst hat genau das in der Geschichte getan: Die Grenzen des gängigen Kunstbegriffs an den Peripherien überschritten und somit erweitert. Natürlich erzeugt das Widerstand, wie jede Entdeckung in der Naturwissenschaft auch für Aufregung sorgt, da sie einen Paradigmenwechsel ankündigt und damit alle sich neu bestimmen und ausrichten müssen. Es sorgt für Bewegung, Unruhe und damit Lebendigkeit. Es ist schwer in seiner Qualität zu definieren, da diese Kriterien sich erst an der Sache entwickeln müssen und es sorgt für hochgradige Verunsicherung.“(Koschek, 2016, Seite 52.)
Bei Susanne Bosch ist deutlich spürbar, dass sich hier die Begriffe erweitern, sie zieht den Menschen, ihr soziale und räumliche Situation, die politischen Gegebenheiten und ihre eigene Perspektive mit ein. Somit ergibt sich eine ganzheitliche Kunst, die sich aus der Verantwortung gegenüber dem Leben speist. Ihre begegnungsschaffende Kunst ermöglicht etwas unsichtbar Geistiges.
Und weiter auf dem Weg des Spürens, des Lesens mit dem Herzen. Der vordergründige Impuls bei Kandinsky und Marc war die Freiheit? Doch dringen wir tiefer ein, dann erkennen wir, das da noch mehr ist. Was war da noch? Die innere Notwendigkeit! Bewußtheit für die Welt! Achtsame Pflege des verborgenen Selbst. „Um die Gegenwart auf schöpferische Weise mit der Zukunft zu verbinden, bedürfe es vielmehr eines freien, offenen, auch bewußt unscharfen, intuitiven Wahrnehmens und Denkens. (Kandinsy nach Kurt, Wachsen, Seite 27)
Und damit sind wir wieder in unserer Zeit, hoch aktuell und am Rand der äußeren Welt, wie Hildegard Kurt das nennt. Das, was die klassische Moderne in der Kunst versucht hat, war fünfzig Jahre später mit Beuys in der Kunst und gemeinsam mit anderen in der Politik und dem Miteinander spürbar.
Damit wird für mich der Bogen der klassischen Modernen zur heutigen Zeit erkennbar. Rund 100 Jahre später erkenne ich, dass das, was der damaligen Avantgarde wichtig war sich heute im meinem Alltag wiederfindet: Die Suche nach dem Geistigen und damit nach neuen Formen der äußeren Welt.
Die Grenzen des gängigen Kunstbegriffs werden an den Peripherien überschritten und dann somit erweitert. Die Kunst überschreitet und erweitert die Grenzen des Gängigen und gibt somit neue Sichtweisen frei. Das suche ich in den Impulsen der heutigen Kunst. Kunstgeschichtlich hat das „Der Blaue Reiter“ getan. Die Formen erweitert, die Farben erweitert, selbstorganisiert, mit Fragen nach dem Geistigen in der Kunst neue Dimensionen eingeführt oder wenigsten öffentlich diskutiert.
Dazu kommt dann Beuys mit der sozialen Plastik, der Kunst und Gesellschaft verband. Wenn du so willst geistige Impulse ins Soziale bringen. Auch der Dialog zwischen Künstler, Werk und Betrachter muß ja zwangsläufig Neues hervorbringen (und war ja selbst was neues).
Da sehe ich die Soziale Plastik, da sehe ich partizipative und gemeinschaftsbildende Kunstformen und ich suche weiter.
Dieter Koschek
veröffentlicht in jedermensch 715